Ein Jahr lang behandelte Petra Winge, auf Anweisung ihrer Ärztin, eine "Herpes-Stelle". Bis sie erfährt: Es ist ein Karzinom.
Sie liebt diesen Job. Jeden Morgen auf dem gelben Fahrrad, bei Wind und Wetter, die immer gleiche Tour durch Norderstedt. Petra Winge,49, ist seit mehr als 30 Jahren Postzustellerin in ihrem Bezirk in Norderstedt-Mitte. „Klar nervt das manchmal, wenn du morgens im Bett liegst und draußen regnet es Katzen und Hunde. Da willst du dich wieder umdrehen im warmen Bett. Aber hilft ja nichts, du musst da raus.“
Im Frühjahr 2012 schmerzt irgendetwas, wenn sich Petra Winge auf den Fahrradsattel schwingt. Diese Stelle zwischen ihren Beinen, sie ist dicker geworden. Das Radeln bereitet Schmerzen, so sehr, dass es nicht mehr geht. Die Tour muss ausfallen. Und Petra Winge bekommt Angst. Ist das vielleicht doch kein Herpes?
Ein Dreivierteljahr zuvor, im Juli 2011. Petra Winge hatte einen Termin bei ihrer Hamburger Frauenärztin. Eine Medizinerin, zu der sie seit Jahren ein gutes Vertrauensverhältnis pflegte. Bei allen Diagnosen und Therapien habe diese bislang richtig gelegen, sagt Petra Winge. „Nun hatte ich diese kleine rote Stelle neben meiner Vagina. Eine Hautauffälligkeit, es juckte ein wenig, mehr nicht.“ Die Ärztin warf einen Blick auf die Rötung und diagnostizierte: Herpes. Nichts Schlimmes. Salbe drauf – und gut. „Du bist bei solchen Unterleibsgeschichten natürlich froh, wenn die Ärzte sagen: Alles ok. Warum sollte ich zweifeln? Ich habe ihr vertraut“, sagt Petra Winge.
Die rote Stelle entwickelte sich trotz der verschriebenen Herpes-Salbe nicht zurück. Wochen später lässt sich Petra Winge erneut einen Termin bei der Ärztin geben. Dieses Mal fragte sie nach einer Überweisung zum Hautarzt.
„Die Ärztin verweigerte die Überweisung und sagte, dass das Herpes sei und sie das schon in den Griff bekommen würde. Ich sollte nur weiter salben.“ …
Aus der roten Stelle ist ein knappes Jahr später eine dicke, schmerzende Schwellung geworden. Petra Winge kann noch nicht einmal mehr Fahrradfahren. Ohne ein erneutes Gespräch mit ihrer Frauenärztin zu führen, geht sie auf direktem Weg ins Albertinen-Krankenhaus in Eidelstedt. Dort, in der Dysplasie-Sprechstunde, trifft Petra Winge auf eine Expertin für Fehlbildungen. Und die Bombe platzt. „Ich liege auf dem Gynäkologenstuhl, bereit für die Untersuchung. Die Ärztin steht am Waschbecken, wäscht sich die Hände, dreht sich um, blickt zu mir und sagt: „Oh, ein Vulvakarzinom.“
Der bösartige Krebstumor ist ein stiller Killer in Deutschland.
Jährlich erkranken zwischen 4000 und 5000 Frauen daran, etwa 750 davon sterben. Tendenz steigend. ...
Nachdem Petra Winge sich über zwölf Monate lang sinnlos gegen Herpes eingesalbt hatte, geht es nach der niederschmetternden Diagnose Vulvakarzinom nun ganz schnell. Das Albertinen Krankenhaus gibt ihr gleich einen Operationstermin. Aufgrund der durch die Fehldiagnose verzögerten Behandlung des bösartigen Tumors ist der Krebs allerdings schon tief ins Gewebe vorgedrungen und hat in den Lymphknoten Metastasen gebildet. Die Ärzte entscheiden sich für eine radikale Operation. Sie entfernen die | | äußeren Schamlippen und die Klitoris, außerdem zwei Lymphknoten. Nach dem Eingriff muss die 49-Jährige noch das „große Paket“ der Krebszellenbekämpfung über sich ergehen lassen. Eine Bestrahlung, die so stark ist, dass Haut verbrennt. Dazu Chemotherapie. Danach ist das Leben, wie es Petra Winge kannte und liebte, vorbei. …
Zwei Jahre nach der Operation, im Frühjahr 2015, sitzt Petra Winge auf dem Sofa ihrer kleinen Wohnung in Norderstedt. Ihre Oberschenkel sind übernatürlich dick angeschwollen. Lymphödeme. Das Wasser der Zellzwischenräume in ihren Beinen wird nicht mehr abgeführt. Ohne Lymphdrainage, zwei Mal die Woche, wäre das Leben nicht erträglich. „Statt 90 Kilo wiege ich jetzt 125 Kilo“, sagt Winge. Aus der sportlichen jungen Frau, die dreißig Jahre auf dem Postrad unterwegs war und gerne zum Schwimmen oder in die Sauna ging, ist eine zu 80 Prozent Schwerbehinderte geworden, die es nicht fertig bringt, sich im Badeanzug der Öffentlichkeit zu präsentieren, die von allem, was über einen kurzen Spaziergang hinaus geht, überanstrengt wird. …
Es gibt diese Tage, an denen Petra Winge verzweifelt ist und Angst vor dem Tod hat. Obwohl die Prognosen für sie derzeit gut sind. Keine Auffälligkeiten, die letzte Reha lief erfolgreich. Trotzdem bleibt das bange Warten darauf, dass der Krebs sich vielleicht doch wieder regt. Ihr Schicksal teilt die alleinerziehende Mutter mit ihrer 16-jährigen Tochter. Der hat die Krankheit der Mutter den Boden unter den Füßen weggezogen. „Es ist leider so, dass sie den Kummer in sich hineinfrisst. Sie kompensiert über das Essen und ist sehr dick geworden.“ Mit der Hilfe eines Jugendpsychologen wollen Mutter und Tochter das Problem angehen.
Und das ist nicht der einzige Kampf, den Petra Winge auf sich nimmt. Sie will nicht schweigen über ihre Krankheit. Außerdem will sie es nicht hinnehmen, dass ihre Frauenärztin, die durch eine Fehldiagnose derart drastische Konsequenzen für das Leben ihrer Patientin zu verantworten hat, ohne Strafe davon kommt. „Meine Ärztin hat Mist gebaut. Hätte sie mich richtig behandelt, könnte ich heute noch meine Lymphknoten und meine Klitoris haben“, sagt Petra Winge.
Die Norderstedterin hat vor dem Landgericht Hamburg Klage gegen die Hamburger Medizinerin eingereicht. Gemeinsam mit der Norderstedter Patientenanwältin Melanie S.C. Holthus bereitet sie sich derzeit auf den Prozess vor. Für ihre Anwältin ist der Fall klar.
„Klassische Fehldiagnose. Bei Hautauffälligkeiten ist eine Biopsie Standard. Hier hingegen hielt die Ärztin über Monate an der Diagnose Herpes fest, verweigerte sogar die Überweisung zum Facharzt und hat damit für eine Prognoseverschlechterung bei meiner Mandantin gesorgt“, sagt Holthus.
Für die Sexualität und auch das weibliche Selbstwertgefühl ist die frühe Entdeckung des Karzinoms von entscheidender Bedeutung. Radikale Eingriffe wie bei Petra Winge können bei einer Vorstufe der Erkrankung vermieden werden. Petra Winge hat mit ihrem Sexualleben vorerst abgeschlossen. Sie glaubt nicht, dass sie einen Mann findet, der sie so akzeptieren kann. „Ich müsste so vieles erklären. Und die wenigsten Männer haben dafür die Geduld. Da bleibe ich lieber allein.“ |