Der Norderstedter Manfred Dreier schuftete 47 Jahre auf dem Bau, ungeschützt vor Asbestfasern. Als er mit 65 an Kehlkopfkrebs stirbt, redet die Berufsgenossenschaft von Schicksal. Für die Witwe Ursula Dreier beginnt ein Jahre langer Kampf um Anerkennung
Ursula Dreier, 70, hat 2006 ihren Manfred an den Krebs verloren. "Nur 65 Jahre alt hat er werden dürfen", sagt sie verbittert. Aber der Krebs sei ihrem Mann nicht in die Wiege gelegt worden. "Den hat er sich mit seiner eigenen Hände Arbeit geholt", sagt die Witwe.
Hat Manfred Dreier für die 47 Jahre seines harten Arbeitslebens also mit dem Tod bezahlt? Für seine Frau kann es daran keinen Zweifel geben. Als gelernter Möbeltischler sei er laufend und ungeschützt dem "Schmodder" ausgesetzt gewesen. So nennt Ursula Dreier den Asbest, jenen hitzebeständigen Werkstoff der im Nachkriegsdeutschland als "Material der 1000 Möglichkeiten" gefeiert und in unzähligen Gebäuden oder Schiffen verbaut wurde, ehe er 1993 in Deutschland verboten wurde.
Manfred Dreier hat überwiegend im Trockenbau malocht. An Norderstedter Wohnhäusern gab es jede Menge Asbestverkleidungen. Und an kaum einer hatte Manfred Dreier nicht die Hand dran. In anderen Betrieben arbeitete er mit belasteten Spanplatten, atmete noch dazu Formaldehyd, Teeröl und Lösungsmittel aus Lacken und Beizen ein. Eine Breitseite an Asbest-Belastung traf ihn beim Abwracken von alten Barkassen im Hamburger Hafen.
Im August 2005 dann die Diagnose: Metastasierendes Hypopharynx-Karzinom. Kehlkopfkrebs. Für den Mediziner ist klar, dass diese Krankheiten mit dem Beruf seines Patienten in Zusammenhang stehen. "Er hat uns auf die Idee gebracht, uns bei der Berufsgenossenschaft um die Anerkennung als Berufskrankheit zu bemühen", sagt Ursula Dreier. Der Arzt prophezeite, es könnte ein langer, harter Weg durch die Instanzen werden.
Heute hat Ursula Dreier diesen Weg hinter sich. Er war lang, hart und endete mit einem aus ihrer Sicht menschenunwürdigen Urteil des Sozialgerichtes Lübeck. Die Berufsgenossenschaft setzte sich mit ihrer Einschätzung durch. Das Gericht bezeichnete Manfred Dreiers Kehlkopfkrebs als eine "schicksalshafte Erkrankung". Der Nachweis, dass die Belastung mit Asbest ursächlich ist, wurde nicht erbracht. Der Kehlkopfkrebs von Manfred Dreier sei leider nicht ganz eindeutig. Will nicht reinpassen, in die Liste der Berufskrankheiten-Verordnung, in der die anerkannten berufsbedingten Krankheiten genau beschrieben werden. Er saß ein Stückchen zu weit an der falschen Stelle. Und war so eben nicht genau die Krankheit Nummer 4104: "Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs, in Verbindung mit Asbestose, in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura, bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren {25x10{+6} [(Fasern/m3) x Jahre]}".
Ursula Dreier musste nun lernen, dass beim beruflichen Umgang ihres Mannes mit Asbest jahrzehntelang nicht so genau hingeschaut wurde. Dass es aber für den Nachweis, ob das was mit seinem Tod zu tun haben könnte, sogar Formeln gibt, die bis auf die Stellen hinter dem Komma das Risiko rückwirkend berechenbar machen.
Sie musste lernen, dass die Anerkennung der Krebskrankheit ihres Mannes als Berufskrankheit eine Lawine losgetreten hätte.
Dass es in Deutschland geschätzte zwei Millionen ähnliche Fälle von Asbest bedingten Krankheitsfällen gibt, von denen lediglich etwa 500 000 offiziell und arbeitsmedizinisch registriert sind.
Dass das Gesundheitssystem in Deutschland derzeit einen "Erkrankungsgipfel" bei den Asbest bedingten Lungenkrankheiten erlebt, die mit einer zeitlichen Verzögerung von 20 bis 60 Jahren jetzt bei den Menschen ausbrechen und häufig zum Tod führen.
Dass es für die Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung also um Milliarden Euro geht, wenn in allen Fällen der Bezug zum Beruf hergestellt werden könnte. 450 Millionen Euro müssen die Unfallversicherungen jetzt schon jährlich für asbestbedingte Erkrankungen aufwenden. Tendenz steigend.
Ursula Dreier ist mit ihrem verstorbenen Mann Manfred eine Episode in einem großen und brisanten Politikum.
"Die Gerichtsverhandlung war eine einzige Farce", sagt die Anwältin von Ursula Dreier, die Norderstedter Fachanwältin für Patienten-Recht S. C. Melanie Holthus. Die Berufsgenossenschaft, die Gutachter und das Gericht hätten wie die Teile eines Puzzles ineinander gepasst. "Da war Lobbyismus pur im Spiel. Der Anspruch von Frau Dreier auf eine Verletzten- und Hinterbliebenenrente wurde einfach abgelehnt", sagt Holthus. Die Berufsgenossenschaft würde vor Gericht noch nicht mal einen Anwalt bemühen. Die Vertreter der Genossenschaft erscheinen mit der Überzeugung vor dem Richter, dass ihre Sicht der Dinge nicht in Frage gestellt wird. "Die sitzen dort ganz selbstherrlich und siegesgewiss", sagt Anwältin Holthus.
Schon die ganze Untersuchung des Falls von Manfred Dreier sei entsprechend Ergebnis orientiert verlaufen. Obwohl sich bei der Obduktion der Lunge von Manfred Dreier | | Asbestfasern fanden und seine Krankheit von der Berufsgenossenschaft als "asbestassoziiert" eingestuft wurde, ermittelte niemand genau, wie viele Jahre der Norderstedter der Belastung durch die Fasern tatsächlich ausgesetzt war, die sogenannten Faserjahre. Auch die Auswirkungen der eingeatmeten Lösungsmittel, der Immissionen von Formaldehyd oder Teeröl wurden nicht weiter verfolgt. "Studien, die einen Zusammenhang belegen wurden vor Gericht als nicht eindeutig und ausreichend bezeichnet. Wie kann das Gericht bei Unklarheit der Situation aber gegen das Opfer entscheiden?", fragt Anwältin Holthus.
Vielleicht lag es am Zigarettenkonsum von Manfred Dreier. Ein Gutachter sprach vor Gericht von zwölf Zigaretten, die Manfred Dreier am Tag geraucht haben soll. "Aber die taten gerade so als habe mein Mann sechs Schachteln am Tag geraucht und sei nur deshalb an Krebs erkrankt", sagt Ursula Dreier. Die Berufsgenossenschaft schließt auf jeden Fall aus, dass die Krebserkrankung und der Tod von Manfred Dreier etwas mit dem Asbest zu tun haben könnten. Selbst eine Erwerbsminderung von 20 Prozent oder mehr wird für den Fall von Manfred Dreier posthum in Abrede gestellt.
Ursula Dreier versuchte alles, was in ihrer Macht stand, um zu beweisen, dass das Gegenteil der Fall war. Sie klapperte alle Firmen ab, bei denen ihr Mann in 47 Jahren gearbeitet hatte. Suchte ehemalige Vorgesetzte auf oder traf sich mit ehemaligen Kollegen. Sie ließ sich eidesstattliche Versicherungen von fünf Mitarbeitern aus vier Firmen geben, die alle bestätigten, was sie aus den Erzählungen ihres Mannes schon so gut kannte. "Der Arbeitsschutz hat im Umgang mit Asbest nie eine Rolle gespielt. An der einen Seite des Tisches hat einer an Asbestplatten gebohrt, an der anderen Seite saß der Kollege und hat gefrühstückt. Alle waren restlos überzeugt von dem Baustoff", sagt Ursula Dreier.
Als Manfred Dreier kurz vor seinem Tod eine Chemotherapie durchmachte, bekamen er und seine Frau Besuch von einem Chemiker der Berufsgenossenschaft Holz. "Der sagte, ich könnte froh sein, dass ich nicht auch was abgekriegt hätte", sagt Ursula Dreier. Jahrelang hatte sie die mit Asbestfasern gespickten Arbeitshemden ihres Mannes vor der Haustür ausgeschüttelt, bevor sie sie in die Waschmaschine steckte. Schon diese Kontamination hätte also für eine Erkrankung ausreichen können? Und da soll der Tod ihres Mannes "schicksalshaft" sein.
"Die Berufsgenossenschaften drücken sich einfach vor der Verantwortung", sagt Dieter Schümann, 71. Er ist der Vorsitzende der Asbestose Selbsthilfegruppe Hamburg und Schleswig Holstein und kennt Fälle wie den der Dreiers im Dutzend. An die 50 Mitglieder zählt der Verein, sie kommen aus ganz Schleswig-Holstein und Hamburg. Schümann, der ehemalige Klempner und Installateur, leidet durch den jahrelangen Umgang mit Asbest unter einer Lungenfibrose. Ohne Sauerstoffgerät und einem Leitungssystem, das an seine Nase führt, kann er sich nicht mehr aus dem Haus bewegen. Fast 40 Jahre dauerte es, bis die Krankheit bei ihm ausbrach. "Wie wollen sie nach all den Jahren noch einen lückenlosen Nachweis führen, wie stark die Belastung war? Das ist so gut wie unmöglich", sagt Schümann.
Deswegen ist es für die Betroffenen so wichtig, dass es endlich zu einer Beweislastumkehr kommt. Firmen müssten alle Unterlagen, die im Zusammenhang mit dem Umgang von Mitarbeitern mit gesundheitsgefährdenden Stoffen existieren, mindestens 40 Jahre aufbewahren. Hoffnung macht den Opfern des Asbests, dass genau das im Bundesland Bremen von der Bürgerschaft gefordert wurde. Der Landtag beschloss auf Antrag der SPD und Bündnis90/Die Grünen, dass in der Hansestadt an der Weser künftig die Asbestose-Betroffenen in einer Beratungsstelle über die Möglichkeiten der Feststellung einer beruflichen Verursachung ihrer Krankheit beraten werden müssen. Außerdem wird der Senat aufgefordert, sich im Bundesrat für die Beweisumkehr einzusetzen.
Nach seinem jahrelangen Kampf gegen die Berufsgenossenschaft und seinen wiederholten Versuchen, die Bundespolitik für das Thema zu sensibilisieren, macht Dieter Schümann der Bremer Vorstoß neuen Mut. "Jetzt müssen wir an den Bundesrat ran, damit die Gesetzesänderung Wirklichkeit wird", sagt Schümann. Die Berufsgenossenschaft zahlt Schümann heute eine monatliche Entschädigung in Höhe von 97,44 Euro - und die wird auf die Rente angerechnet. "Ich werde weiter kämpfen. Bin mir aber nicht sicher, ob ich das Ende noch erlebe", sagt er.
Aufgeben will Ursula Dreier auch auf keinen Fall. Um knapp 400 Euro Rente geht es bei ihr. "Aber es ist nicht das Geld, das mich dazu bringt, weiter gegen die Berufsgenossenschaft vorzugehen", sagt die Witwe. "Es ist die Verantwortung, um die es geht. Ich will, dass anerkannt wird, was meinem Mann das Leben gekostet hat." |